Der Tag fängt großartig an, ich verschlafe nämlich und wache um 7:25h auf, um 8h muss ich am Treffpunkt sein. Ungewaschen und ohne Frühstück schlage ich Punkt 8 auf und stelle fest, dass außer Dominik, dem Veranstalter, noch kein Mensch da ist. Nach und nach trudeln dann die Teilnehmer ein, Daniel und Steven, zwei Exil-(Ost)Deutsche, die in der Schweiz leben, ein Trupp Schweden, ein Franzose, ein Hongkong-Chinese namens Henry und zwei Slowaken, deren Namen ich während der kompletten Tour nicht erfahre. Dazu kommen noch unser Fahrer Kolja und der Reiseführer Sergei. Kolja spricht kein Wort, Dominik und Sergei sind extrem sympathisch, allerdings wird sich Sergei im Laufe der Tour mit einer bestimmten Aussage komplett disqualifizieren, dazu später mehr.
Nachdem alles Gepäck in dem etwas betagten Sprinter verstaut ist und alle bezahlt haben, fahren wir los Richtung Norden. Unterwegs stellt uns Sergei nochmal die Sicherheitsanweisungen vor, die wir im Vorfeld alle schon per Mail erhalten und bestätigt haben. Innerhalb der Zone ist es unter anderem verboten:
- im Freien zu Essen oder zu Rauchen
- T-Shirts oder kurze Hosen zu tragen
- offene Schuhe zu tragen
- sich irgendwo hinzusetzen
- jegliche Gegenstände abzulegen
- etc. etc.
Dass diese Vorschriften sehr lasch interpretiert werden, oder vielmehr dass sich kein Mensch dran hält, wissen wir zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Wir fahren dann knapp zwei Stunden, während derer wir auf dem Bordfernseher eine Doku über das Reaktorunglück sehen, die zwar ziemlich gut ist, ich aber schon kenne. Hier ein Link zur deutschen Version. Dann kommen wir zum ersten Checkpoint.
Die Sicherheitszone selbst ist wiederum in zwei Bereiche geteilt, einen inneren 10km-Ring um das Kraftwerk und einen 30km-Ring. Diesen äußeren Ring passieren wir jetzt. Wir halten an, alle müssen aussteigen und im Gänsemarsch durch eine Art Drehkreuz, vorher werden unsere Pässe kontrolliert. Das sieht alles sehr nach Krieg aus, eine Schranke, Sandsäcke, Soldaten in Uniform mit Maschinenpistolen bewaffnet, allerdings sind die alle sehr freundlich und machen sich über einige unserer Passfotos lustig.
Unser erstes Ziel ist die Stadt Tschernobyl, die innerhalb der 30km-Zone liegt. Tatsächlich liegt das Kraftwerk nahe der Stadt Prypiat, da aber Tschernobyl auch der Name des Bezirkes war/ist, wurde das Werk danach benannt. In Tschernobyl lebten vor dem Unglück ca. 15.000 Menschen, heute sind es immerhin knapp 3.000. Zum größten Teil sind das Arbeiter vom Kraftwerk, Soldaten und Verwaltungsbeamte und ein Handvoll Angestellte der wenigen Hotels. In einem davon, einen richtigen Namen hat es nicht, checken wir dann ein. Die Zimmer sind besser als erwartet, ich bekomme ein einzelnes, muss mir das Bad mit Daniel und Steven teilen, was aber kein Problem ist.
Nachdem alle eingecheckt sind machen wir uns sofort auf den Weg zum ersten Ziel, eine Art Mahnmal für die Opfer der umliegenden Gemeinden. Mittelpunkt ist eine Metallskulptur, die einen Engel mit einer Posaune darstellt. Hintergrund ist folgender: in der Apokalypse des Johannes erscheinen mehrere Engel, die eine Posaune blasen, woraufhin diverse Katastrophen passieren, die das nahende Ende verkünden:
“Der dritte Engel blies seine Posaune. Da fiel ein großer Stern vom Himmel; er loderte wie eine Fackel und fiel auf ein Drittel der Flüsse und auf die Quellen.
Der Name des Sterns ist «Wermut». Ein Drittel des Wassers wurde bitter und viele Menschen starben durch das Wasser, weil es bitter geworden war.”
Chornobyl, der ukrainische Name von Tschernobyl, bedeutet ‘Wermut’. Und weil durch das Unglück unter anderem auch die Flüsse und Seen der Umgebung verseucht wurden, ziehen die gläubigen Ukrainer eben diese Parallele.
Die Statue steht auf einer stilisierten Karte der Zone, dazu gibt es eine Reihe von Schildern mit Namen von bei der Katastrophe umgekommen Bewohnern, die im Stil von Ortsschildern gestaltet sind: auf der Rückseite ist der Name rot durchgestrichen.
Es folgt eine Kirche, die einzig erhaltene in der Stadt, die von den Bewohnern in Schuss gehalten wird, ein Rundgang um ein ehemaliges Hafengebiet und zuletzt besuchen wir eine Feuerwehrstation. Auf dem Hof sind einige obskure Roboter ausgestellt, mit denen direkt nach dem Unglück versucht wurde, den radioaktiven Schutt zu räumen. Es stellte sich recht schnell heraus, dass sämtliche Geräte wegen der Strahlung versagten, weswegen man dann Menschen einsetzte, die Liquidatoren, die zynisch ‘Biorobots’ genannt werden.
Dann gehts zurück ins Hotel zum Mittagessen. Wir bekommen Suppe, Krautsalat und ein paniertes Hähnchenschnitzel mit Kartoffelpüree, als Nachtisch Blätterteiggebäck mit einer extrem süßen Mohnfüllung. Alles ziemlich lecker. Nach dem Essen fahren wir etwas weiter in die Zone, befinden uns aber immer noch ausserhalb des 10km-Bereichs. Wir sehen den ersten von unzähligen Lost Places (eigentlich ist die ganze Zone ein einziger riesiger Lost Place), einen Kindergarten. Hier befindet sich auch einer der unzähligen Hotspots. Was ich nicht wusste ist, dass diese räumlich so begrenzt sind, dass man 30cm davon entfernt mit dem Geigerzähler eine Strahlung misst, die sich von der gewöhnlichen Hintergrundstrahlung kaum unterscheidet, diese sich dann aber innerhalb kürzester Distanz auf das mehrere Tausendfache erhöht. Ungefährlich wenn man sich ihr nur kurze Zeit aussetzt, aber trotzdem gruselig.
Weiter gehts zu zwei Seen, die den Blöcken 1 bis 4 des Kraftwerks als Kühlwasser-Reservoir dienten. Diese befinden sich innerhalb der 10km-Zone, wir müssen also durch einen weiteren Checkpoint, wo Fotografieren strengstens verboten ist. Bei den Seen befindet sich eine Fischfarm. Nach dem Unglück wurde diese zu Studienzwecken weiter genutzt, man wollte nämlich erforschen, inwieweit sich der Verzehr der strahlenbelasteten Fische auf den Organismus auswirkt. Dazu wurde zusätzlich noch eine weitere Farm angelegt, auf der Versuchstiere lebten, denen die verstrahlten Fische verfüttert wurden.
Nach einer Begegnung mit vier lustigen Hundewelpen besichtigen wir einen nicht fertiggestellten Kühlturm, er war für die ursprünglich geplanten Blöcke 5 und 6 vorgesehen, danach fahren wir zum ersten Mal an dem Kraftwerkskomplex und dem fast fertiggestellten neuen Sarkophag vorbei. Morgen werden wir das alles noch aus geringerer Entfernung sehen.
Schliesslich fahren wir in die Stadt Prypiat, hier lebte der größte Teil der Arbeiter des Kraftwerkes mit ihren Familien. Die Stadt hatte zum Zeitpunkt des Unfalls knapp 50.000 Einwohner, heute sind es genau 0. Direkt am Ortseingang befindet sich ein Gebiet, das als ‘Red Forest’ bekannt ist. Dort stand zum Zeitpunkt der Katastrophe ein Wald, der, direkt in der Windrichtung gelegen, die volle Dosis der radioaktiven Wolke abbekam. Innerhalb kürzester Zeit starben sämtliche Bäume ab und die Überreste nahmen eine rötliche Färbung an. Heute stehen dort neu gewachsene Bäume und obwohl alles sehr gesund und harmlos aussieht, darf man das Gebiet nicht betreten und die Geigerzähler spielen verrückt, wenn man zu nahe rangeht.
Auch wenn in der Stadt natürlich alles von Wert im Laufe der Jahre aus den Überresten geplündert wurde, gibt es noch genügend Eindrucksvolles zu sehen, wir halten uns dort etwa 2,5 Stunden auf und sehen unter anderem: die Post, das Haus der Kulturen, das Sportstadion, den Freizeitpark mit dem berühmten Riesenrad, einen Kindergarten, eine Schule, ein Cafe, usw. usw.
Mit der Sicherheit nehmen es unsere Führer selbst nicht so genau, so laufen sie im T-Shirt rum, meinen Trinken und Rauchen im Freien sei vollkommen ok und vor allem lassen sie uns in Gebäude reingehen, obwohl gerade das strengstens untersagt ist. Nicht wegen der Strahlung, sondern weil alles extrem baufällig ist und überall Schrott, Glasscherben und anderes Zeug rumliegt. Wir sehen an diesem Tag lediglich eine andere Gruppe, die machen das genauso. Dominik meint nur, wir sollen halt aufpassen dass keiner irgendwo runterfällt und falls wir irgendwo Polizei oder Militär sehen unauffällig die Gebäude verlassen.
Innerhalb der Gebäude ist alles voller Trümmer und Schrott, das sieht schlimmer aus als bei ‘The Walking Dead’, ausserhalb allerdings macht die Stadt, auch bedingt durch das tolle Wetter, einen eher harmlosen, verwunschenen Eindruck. Eine seltsame, aber eben nicht unangenehme Atmosphäre. In manchen der besuchten Gebäude finden wir dann aber immer wieder Szenen vor, die uns schlucken lassen, z.B. herumliegende Kinderschuhe, einen riesigen Haufen Gasmasken, etc.
Irgendwann bekomme ich ein Gespräch zwischen Sergei und Dominik mit, ich weiss nicht wie sie auf das Thema gekommen sind, jedenfalls geht es um Schwule. Sergei haut dann so nebenher raus, dass er, wenn er zwei Männer beim Küssen sehen würde, die beiden sofort attackieren würde. Als ich ihn ganz höflich frage, ob er noch alle Tassen im Schrank hat, rudert er sofort zurück, nein, natürlich würde er niemals Gewalt anwenden, aber er kann Schwule halt nicht ab und Homosexualität sei bei den Ukrainern generell nicht sonderlich beliebt. Danach weicht er aus und auf weitere Diskussionen will er sich nicht einlassen. Ich versuche später noch ein paar mal zu sticheln, etwa als Dominik und einer der Slowaken ein Foto machen und sich dabei umarmen, er geht aber nicht darauf ein. Ich mache mir eine geistige Notiz, Sergei am Ende der Tour kein Trinkgeld zu geben.
Wir verlassen dann Prypiat und fahren zurück zum Hotel. Als wir die 10km-Zone verlassen, müssen wir alle eine seltsame Apparatur passieren, die uns angeblich nach Strahlung checkt. Wir bekommen alle ein ‘OK’ und ich bin mir mit Henry, mit dem ich mich sehr gut verstehe, einig, dass das sicher nur zur Beruhigung der Touristen dient und nicht wirklich irgendwas misst.
Im Hotel wird dann Abendessen serviert, bestehend aus paniertem Hähnchenschnitzel und Reis. Danach rücken wir die Tische zusammen und bestellen Bier. Die Schweden machen ihrem Land Ehre, sie trinken nämlich alle wie die Fische und vernichten Unmengen von Snus. Wir haben jede Menge Spass und das Bier ist billig, zum Glück macht in Tschernobyl alles um 22h dicht, so dass wir dann noch relativ nüchtern ins Bett kommen.