Nach dem (reichlichen) Frühstück fahren wir wieder in die 10km-Zone. Der erste Programmpunkt ist etwas zwiespältig, wir besuchen ein altes Ehepaar, die knapp zwei Jahre nach der Katastrophe illegal in ihr altes Haus zurückgekehrt sind und seitdem ununterbrochen dort leben. Die Regierung duldet diese Leute und seit einigen Jahren haben sie auch offiziell die Erlaubnis, sich dauerhaft in der Zone aufzuhalten, so bekommen sie wenigstens eine Rente und werden zumindest notdürftig medizinisch versorgt.
Nun ist es für die beiden über 70jährigen natürlich ein großes Glück, dass der Kontakt zu Dominik besteht, denn so erhalten sie regelmässig Spenden von den Touristen und sie werden von Dominik und seinen Leuten mit Medikamenten und Lebensmittel versorgt. Der Besuch hat allerdings mehr was von einem Menschenzoo und ich fühle mich extrem unwohl dabei. Die alte Frau ist sehr zurückhaltend, ihr Mann freut sich aber offensichtlich über die Gesellschaft und redet am Stück ohne Punkt und Komma. Er war in den 80ern bei der Sicherheit des Kraftwerks beschäftigt und erzählt uns, wie er sich sämtliche Materialien, aus denen er ihr Haus gebaut hat, aus Kraftwerksbeständen zusammengeklaut hat.
Darüber, wie die beiden den Tag des Unglücks erlebt haben, erzählt er nichts. Ja, es sei schon recht einsam alleine, aber dafür leben sie in ihrer Heimat in ihrem eigenen Haus, ausserdem komme der Sohn regelmässig zu Besuch und da seien ja auch noch die Touristen. Er führt uns rum, zeigt uns stolz ihr Schwein, welches vor Wonne die Augen schliesst und vor sich hin grunzt, als ich ihm den Rüssel kraule, sein 40 Jahre altes Auto, den Hühnerstall usw. Alle Gebäude hat er selbst errichtet. Zur Zeit macht ihm sein Bein Probleme, deswegen kann er nicht so arbeiten wie er möchte und ist nicht ausgelastet, weswegen er seiner Frau auf die Nerven geht.
Ich bin sehr beeindruckt und organisiere eine Sammlung, damit die Gruppe den beiden eine ordentliche Spende dalassen kann. Einer der beiden Slowaken nervt, indem er die zwei permanent fotografiert und keine Probleme damit hat, das Objektiv 20cm vor die Gesichter zu halten. Ich ärgere mich im Nachhinein, dass ich nichts gesagt habe.
Nach einem kurzen Stop bei einer Feuerwehrstation fahren wir etwa 20km weiter zu einem weiteren Highlight. Es ist bekannt, dass die Stadt Prypiat Ende der 60er Jahre gemeinsam mit dem Kraftwerkskomplex neu errichtet wurde, weniger bekannt ist die Tatsache, dass gleichzeitig etwa 6km südwestlich vom Kraftwerk eine geheime militärische Anlage namens Tschernobyl-2 gebaut wurde. Es handelt sich dabei um den Sender eines Überhorizontradars, der Empfänger war etwa 60km entfernt aufgebaut. Es wurde ein extrem leistungsstarkes kurzfrequentes Signal ausgesandt, welches, von der Ionosphäre reflektiert, einmal um den Erdball kreiste und dann vom Empfänger aufgenommen wurde. Damit sollten amerikanische Raketenbasen überwacht werden, was während der gesamten Betriebszeit von 1976 bis 1989 nie richtig funktioniert hat. Das Projekt trug den Namen Duga-3, im Westen auch ‚Moscow Eye‘ benannt. die Sendeanlage, die wir besuchen, verbrauchte bis zu 30% der gesamten Leistung des Kernkraftwerkes. Da das Signal mit einem charakteristischen Hämmern den sonstigen Funkverkehr störte, wurde es unter Amateurfunkern auch ‚Russian Woodpecker‚ genannt.
Die beiden Antennen-Arrays haben zusammen eine Länge von fast einem Kilometer(!) und eine maximale Höhe von mehr als 150m. Dazu wurde eine eigene kleine Stadt für die dort beschäftigten Soldaten und Techniker gebaut. Interessantes Detail: die Anlage war bis 1989 in Betrieb, also noch volle drei Jahre nach dem Unglück, während derer die Menschen vor Ort der Strahlung ausgesetzt waren.
Später fahren wir nochmal nach Prypiat, wo wir ein großes Schwimmbad und eine Polizeistation sehen, dann steigen wir 17 Stockwerke auf das Dach eines Mietshauses, von wo wir einen Blick auf das Kraftwerk haben. Das Mittagessen wird uns dann in der Kantine des Kraftwerkes serviert, es gibt, wer hätte das gedacht, paniertes Hähnchenschnitzel mit Kartoffelpüree. Wir nehmen aus der Kantine Brot mit und füttern damit die radioaktiven Fische in einem der Kühlteiche, dann fahren wir zu einem Platz, an dem ein Mahnmal für die Opfer der Katastrophe steht.
Wir sind jetzt geschätzt 100m vom Block 4 und 30m vom neuen Sarkophag entfernt. Natürlich nutzen wir die Gelegenheit zum Fotografieren, näher werden wir nicht rankommen. Die Geigerzähler messen erhöhte Werte, der alte Sarkophag ist ziemlich löchrig geworden. Hier machen wir noch ein Gruppenfoto und damit endet auch offiziell unsere Tour. Dominik hat aber noch einen zusätzlichen Ausflug für uns, wir fahren einige Kilometer ausserhalb der 10km-Zone zu einem Autofriedhof, wo alle möglichen Fahrzeuge, die während der Beseitigung der Unfallfolgen eingesetzt wurden, abgestellt sind. Abgestellt bedeutet hier, dass man einen riesigen Schrottplatz einfach in den Wald gesetzt hat. Während wir zwischen dem Schrott rumlaufen erscheinen zwei schlecht gelaunte Polizisten, die wissen wollen was wir hier machen und Papiere sehen wollen. Sergei sammelt unsere Pässe ein und verschwindet. Nach ein paar Minuten kommt der Chef der Polizisten angefahren und grinst als er Sergei sieht, die beiden kennen sich. Wir müssen lediglich einzeln antreten und unsere Pässe entgegen nehmen, dann dürfen wir fahren.
Nach 2,5 Stunden kommen wir wieder in Kiew an, ich verabschiede mich, nicht aber von Dominik, ich habe nämlich für morgen eine weitere Tour gebucht, zu einer unterirdischen russischen Raketenstation.